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SLUSH 2021: Die Trends der nächsten Jahre, frisch aus dem hohen Norden

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Talkoot, man könnte es mit Nachbarschaftshilfe übersetzen, ist eine Art finnische Lebenseinstellung, die von klein auf in der Gesellschaft verankert ist. Man hilft einander, ohne Bezahlung, in der Gewissheit, das auch einem selbst geholfen wird. Früher bei der Ernte, heute beim Laubharken in der Nachbarschaft oder: Als freiwilliger Helfer oder Helferin auf der SLUSH – der größten Start-Up-Messe der Welt.

SLUSH 2021

Sie kommen aus den Universitäten und Hochschulen rund um Helsinki. Heute helfen sie, dass das große Start-Up-Treffen reibungslos läuft und immer wieder neue Akzente setzt, in ein paar Jahren stehen sie womöglich selbst auf der Bühne – suchen nach finanzstarken Partnern für ihr eigenes Start-Up oder, ein paar Jahre später, sind selbst Geldgeber:in geworden und investieren in die nächste Generation. Seit der ersten SLUSH im Jahr 2008 haben sich die Investitionen in finnische Start-Ups so von knapp 100 Millionen Euro auf (schätzungsweise) 1,5 Milliarden im Corona-Krisenjahr 2021 gesteigert. Der Anstieg beim Kapitalfluss aus dem Ausland ist noch beeindruckender.

Doch die SLUSH ist längst keine rein finnische Veranstaltung. Zur Eröffnung lässt sich der finnische Präsident genauso blicken wie Ex-US-Präsidentschaftskandidat Al Gore (beide 2017). Start-Ups aus Finnland, Europa und Asien kommen – und die SLUSH selbst geht auf Tour und war schon in Tokyo oder Singapur zu gast.

Vom Apple Newton zur Fleischalternative

Die Eröffnungs-Keynote hält dieses Jahr Tony Fadell, einer der wichtigen Köpfe hinter Apples iPod, iPhone und dem später von Google übernommenen Nest. Es war ein Appell an die nächste Generation: Als Apple in den 90ern seinen ersten Gehversuch mit etwas machte, das wir heute Tablet nennen würden, investierte man 100 Millionen US$ – und verkaufte nur eine vierstellige Stückzahl der Newton getauften Geräte. Man hatte versucht ein Problem zu lösen, von dem die breite Masse noch nicht wusste, dass es existiert. Ein Gerät, das eher die Ingenieure, die es entwickelten, als den Markt überzeugte. Die Idee war nicht verkehrt, aber die Zeit noch nicht reif.

SLUSH 2021: Tony Fadell

Und damit schließt sich der Kreis zur SLUSH: Genau solche Ideen suchen viele Investoren in Helsinki. Neue Ideen, die ihrer Zeit voraus zu sein scheinen (oder sind). Tony Fadells Future Shape investierte 2014 in Impossible Meat, als Fleischersatzprodukte bestenfalls ein Randthema waren. Oder Turntide Technologies, die sich daran machen die Art wie Motoren funktionieren fundamental zu verändern – und damit einen signifikanten Anteil des weltweiten Stromverbrauchs reduzieren könnten.

Plan A

Lubomila Jordanova von Plan A aus Berlin spricht im Amphitheater über die Schwierigkeiten große Unternehmen wirklich nachhaltig oder gar CO2-neutral zu machen. Die Schwierigkeiten beginne bereits bei der Bestandaufnahme, wie viel CO2 ein Unternehmen emittiert – direkt und indirekt. Ein Markt für Analyse und Beratung, den Experten auf viele Milliarden in den nächsten Jahren schätzen.

Wo viel Geld winkt, sind schwarze Schafe bekanntlich nicht weit. Greenwashing ist bereits heute ein Problem, wie zuletzt die Sneakerjagd zeigte. Viele Versprechen über Recycling und Nachhaltigkeit auf der einen Seite – das Schreddern und verbrennen von Neuware auf der anderen. Ähnlich sieht es bei vielen Anbietern von CO2-Kompensationen aus.

Auch nach Lubomila Jordanova sind CO2-Kompensationen im Grundsatz nichts schlechtes, sollten jedoch immer der letzte Schritt sein. Am Anfang steht das Vermeiden unnötiger Emissionen und Reduktion überall dort, wo es technisch möglich ist. Erst danach kommen Kompensationen und auch diese müssen gut überwacht werden.

"Es geht nicht darum den Planeten zu retten, dieser wird uns überleben. Es geht darum uns zu retten." Die Abschlussworte sitzen.

Cleantech 2.0

Andrew Beebe (Obvious Ventures), Brook Porter (G2 Venture Partners), Tony Fadell und Julia Trotman Brady (Valo Ventures), alle ursprünglich aus den USA, diskutieren über Investitionen in Start-Ups und Unternehmen, die sich auf grüne, saubere Technologien und Lösungen konzentrieren. Sie alle kamen nach Europa, da Nachhaltigkeit in den USA lange kein wichtiges Thema war. Und sie wurden nicht enttäuscht, auch heute: Der Zuschauerraum ist voll.

Was hat sich in den letzten 10, 15 Jahren verändert? Zu Beginn kam Druck vor allem von Privatpersonen, die vereinzelt begannen sich für nachhaltige Produkte zu interessieren und so einen Markt schufen. Seit einigen Jahren kommt die Nachfrage auch aus den Unternehmen selbst, die ihre Produktion umstellen wollen – oder müssen.

Aus einer kleinen Nische für "Cleantech" ist ein Markt geworden, der bereits jetzt auf ca. eine halbe Billion US-Dollar geschätzt wird. Ein Grund dafür: Selbst Unternehmen aus den fossilen Energien kommen zur Erkenntnis, dass langfristig größere Gewinnen im Bereich grüner Technologien und CO2-neutraler Produkt winken.

Tag 2: Noch mehr Cleantech

So wundert es nicht, dass kaum ein Vortrag ohne Schlagworte wie "Nachhaltigkeit" auskommt. Bereiche wie Textilrecycling scheinen weiterhin nahezu unlösbar, sind verschiedenste Materialien oft und im wahrsten Sinne des Wortes, miteinander verwoben. Auch neue Textilien setzen bestenfalls auf weniger fossile Quellen oder sind weniger Komplex als Funktionsgewebe wie Gore-Tex. Aber andernorts gibt es Fortschritte – mit auffallend vielen Beiträgen aus Nordeuropa und Deutschland.

Aus Berlin kommt das Start-Up Climatiq, das eine API zur Erfassung von CO2-Emissionen anbietet. Unternehmen haben die Möglichkeit in ihren hausinternen Programmen Schnittstellen zur CO2-Messung einzubauen, beispielsweise in der Dienstreiseerfassung, beim Wareneingang, Versand oder dem Stromverbrauch.

Recycling-Kunststoff sind derzeit bis zu viermal teurer als neuen Kunststoff aus Erdöl herzustellen. Ein Problem, selbst wenn Produzenten auf einen höheren Recycling-Anteil setzen wollen: Hochwertiges Recycling-Material finden. Das Hamburger Start-Up Cirplus betreibt einen Online-Marktplatz für Geschäftskunden, auf dem ausschließlich Recycling-Kunststoffe gehandelt werden. Eine Art eBay oder Amazon Marketplace der Recycling-Welt.

SLUSH 2021: Cleantech

Elstor Oy nimmt sich dem wohl größten Problem der Erneuerbaren Energien an: Die Speicherung der Energie für Zeiten mit geringer Produktion oder einem besonders hohen Bedarf. Das möglichst kostengünstig und Ressourcensparend. Bei Elstor Oy konzentriert man sich auf den Bereich Wärme- und Dampferzeugung. Die elektrische Energie wird als besonders heißer Dampf unter hohem gespeichert. Dank hoher Wärmekapazität und mit passender Isolierung lassen sich so große Energiemengen für längere Zeit speichern.

Auf Baustellen, Booten oder Yachten oder überall sonst, wo die nächste Steckdose weit entfernt ist: Dieselgeneratoren sind vielerorts zu finden. Das estnische Start-Up PowerUp macht dich daran, mit mobilen Brennstoffzellen eine Alternative zu bieten. Das kleinste System UP200 bietet 12-V- und USB-Anschlüsse mit bis zu 200 Watt, das bisher größte geplante System UP6K immerhin 6 kW. Alle Systeme verfügen zusätzlich über eine integrierte Batterie, die unter anderem Strom von Solarzellen oder Mini-Windrädern zwischenspeichern kann, wenn diese mehr Strom produzieren als benötigt wird.

Obwohl erst wenige Jahre im Geschäft, hat es das kleine Team bereits bis zur europäischen Luft- und Raumfahrtagentur ESA geschafft. In Tallinns Stadthafen kooperiert man mit dem lokalen Energiegiganten Alexela, der neben Diesel nun auch passende H2-Kartuschen anbietet.

SLUSH 100

Eine echte Institution auf der Messe im hohen Norden ist die SLUSH 100, ein Wettbewerb von 100 Start-Ups, die im großen Finale auf der Hauptbühne die drei besten aus der Vorrunde antreten lassen. Spannender Weise gänzlich abseits von Cleantech, aber nicht weniger relevant: Medizin und Gesundheit standen im Fokus.

Helppy (Finnland) baut eine Plattform für Angehörige von Pflegefällen, die sich oft mit mehreren Dienstleistern für verschiedene Aspekte der (häuslichen) Pflege herumschlagen müssen. Von der Auswahl bis zur Abrechnung will man dabei den gesamten Prozess unterstützen.

Hormona, später zum Sieger der SLUSH 100 gekürt, versucht sich an einem Markt, der etwa die Hälfte der Weltbevölkerung im Auge hat: Frauen. Über eine Kombination von Hormontest und Smartphone-App will man Frauen unterstützen, ihren Hormonspiegel analysieren und Körper so besser verstehen zu können.

Vitroscope will die Medikamentenentwicklung revolutionieren. Die Entwicklung ist unter anderem deshalb so teuer und für seltene Krankheiten oft nicht lohnenswert, da weit über 90 % der Kandidaten nie den Markt erreichen. Kosten, die die wenigen erfolgreichen Medikamente einfahren müssen. Mit einer lebensnäheren Testumgebung im frühen Forschungsstadium will man die Fehlerrate in späteren Zulassungsstudien drastisch reduzieren können.